01 :
Um Achtzehnhundertachtundsiebzig, dem verfluchten Jahr,
wird mein Ur-Ahne Martin Götting, der ein Weber war,
des Verbrechens angeklagt, ein Sozialist zu sein,
mit seiner Frau und sieben Kindern, vier davon noch klein,
von der Polizei im Morgengrau'n aus seinem Haus gejagt.
Nicht ein Nachbar - dort im alten Land bei Stade - der es wagt,
das Verbot zu übertreten, Delinquenten, die verbannt,
ausgewiesen und geächtet sind, auch nur die Hand
zu geben, Obdach zu gewähren oder einen Bissen Brot.
Tag und Nacht von der Willkür der Staatsgewalt bedroht,
fliehen die neun Menschen nun für immer aus dem Land
in eine Welt, in eine Zukunft düster, kalt und unbekannt.
02 :
Unterwegs stirbt Martin Göttings Frau, nur ein paar Tage nach
der Vertreibung - sie ist ohnehin schon krank und schwach -
an Hunger, Kälte und Entkräftung. Aber kein Pastor
will sie christlich bestatten. Schließlich bei Wintermoor,
in der Heide irgendwo, verscharrt er sie dann selbst im Wald.
Zieht weiter, Tage, Wochen, nirgends macht er lange Halt.
Kommt abgerissen, schmutzig in Hannoversch-Münden an
mit seinen Kindern. Halb verrückt vor Hunger packt er dann
die Axt und stürmt in einen Laden, brüllt in seiner Not:
"Gebt mir Brot für meine Kinder, oder ich schlage euch tot!"
Der Bäcker sagt nur:" Halt, Genosse, hier in diesem Haus
seid ihr willkommen. Esst euch erst mal satt und ruht euch aus.
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.
03 :
Amanda, meine Großmutter mütterlicherseits,
ist Büglerin bei Seidensticker - man schreibt nun bereits
das Jahr Neunzehnhundertvierzehn -, sie führt einen zähen Kampf
für den Achtstundentag, das Frauenwahlrecht, schwitzt im Dampf
und der Glut zischender Eisen. Sie veröffentlicht
nebenbei auch noch das ein" oder andere Gedicht
in der "Volkswacht" - damals das Organ der SPD.
Reime über späte Rosen, die noch blühn im ersten Schnee.
Geht in ihren Versen auch mit der Partei hart ins Gericht
- der Kriegskredite wegen, die druckt man natürlich nicht.
Ganz Deutschland jubelt, weil der Krieg endlich beginnt,
erstickt die Stimmen der Vernunft, da, wo sie noch zu hören sind.
04 :
Anno Neunzehnhundertachtzehn bricht bei Kriegsende in Kiel
der Aufstand der Matrosen aus, und es fehlt nicht viel,
dass mein Großonkel Gustaf stirbt, verletzt von einem Schuss.
Sieben Kameraden tot. Er bleibt am Leben, doch er muss
mit ansehn, während seine Wunde nur ganz langsam heilt,
wie sich der Genosse Noske - aus Berlin herbei geeilt -
an die Spitze der Erhebung stellen lässt - und sie verrät.
Als die Soldatenräte es bemerken, ist es längst zu spät.
Gustaf ist verbittert, tief enttäuscht von der Partei,
die sein Leben ist, dennoch bleibt er weiterhin dabei
und bis ans Ende seiner Tage ein Parteisoldat.
Ja, so einer kann sehr treu sein, so ein Sozialdemokrat
05 :
Die junge deutsche Republik, hat sich scheinbar befreit
von alten Zwängen. Und auch meine Mutter ist zu jener Zeit,
neunzehnhundertneunundzwanzig, noch recht jung und sie
ist im Haus eines Patriziers der Tabakindustrie
als Dienstmädchen - als so genannte Perle - angestellt.
Wenn ich Patrizier sage, meine ich so richtig altes Geld.
Reichtum, wie er sich über die Jahrhunderte erhält.
An dem Spinnweben kleben, der zu Goldstaub zerfällt
bei Berührung und sich dadurch noch vergrößert und vermehrt.
Meine Mutter also - Fenster offen - singt und steht am Herd.
Zwei Zimmerleute draußen bei der Arbeit, singen mit,
auch den "Sozialistenmarsch" schmettern sie laut zu dritt.
06 :
Der Hausherr kommt und sagt: "Dora, wenn ich in diesem Haus
noch einmal solche Töne hören muss, fliegen sie raus!"
Kurz darauf wird meine Mutter nachts von einem Schuss geweckt,
findet ihren Dienstherrn tot im Sessel ausgestreckt.
Fast so groß wie eine Faust ist das Loch in seiner Stirn.
Dora fegt mit Handfeger und Schaufel sein Gehirn
vom Teppich und - die gnädige Frau will es nun mal so -
entsorgt es, wie befohlen, auf dem Dienstbotenklo.
So geschehen damals nach dem großen Börsenkrach,
jenem schwarzen Freitag, als die Welt zusammenbrach
für die Herrschaft meiner Mutter - plötzlich ruiniert,
all das schöne alte Geld für immer futsch, verspekuliert.
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.
07 :
Neunzehnhundertsechsunddreißig steht an einem Tag im Mai
mein Opa August am Poetenweg vor'm Haus und hält dabei
seine Kuh am Strick, lässt sie grasen, sieht von weitem schon
beim Spaziergang in der inneren Emigration
Reichsinnenminister Severing im Zwangsruhestand.
Der kennt Großvater August, drückt ihm jovial die Hand.
"Na, was sagt Volkes Stimme denn zu h*****s Politik?"
fragt er Opa und der sagt:" h***** bedeutet Krieg."
Severing lacht und meint:" Genosse, wenn wir zwei
uns hier in drei Jahren wiedersehen, ist der Spuk vorbei.
Hier, nehmen sie die Zigarre, rauchen sie die, guter Mann."
Steckt sie in Opas Westentasche und entfernt sich dann.
08 :
Neunzehnhundertneununddreißig hat mein Vater Streit
mit Wachtmeister Karwanke, der ist n*** und er schreit:
"Nur ein Wort noch gegen unsern Führer und dann bist du dran!"
Das meint er ernst, das weiß hier jeder, er hat schon vier Mann
aus der Gegend - Sozis, Kommunisten - ins KZ gebracht,
die nie zurückgekommen sind, nur hat er nicht bedacht,
dass Vater viele Freunde hat. Und in der Nacht darauf
lauern ihm so an die sechs vermummte Männer auf.
Nun, verprügelt wird er diesmal nicht, es reicht, dass man ihm droht:
"Du weißt, am Tag, an dem sie Hermann holen, bist du tot."
So bleibt Vater unbehelligt, immerhin ein kleiner Sieg.
Nur wird er bald darauf Soldat, wieder beginnt ein Krieg.
09 :
Neunzehnhundertsechsundvierzig. n***-Deutschland ist besiegt.
Der Gemeinderat versammelt sich. Und von Karwanke liegt
ein Gesuch vor: Er will wieder Polizeiwachtmeister sein.
Alle sind dafür und nur mein Vater stimmt mit 'Nein'.
Die Genossen schimpfen: "Hermann, Mensch, es muss doch weiter gehn.
Du musst doch mal vergessen können und nach vorne sehn."
Aber als er an der Entscheidung festhält bis zum Schluss,
wird n***-Karwanke nie mehr Polizist und muss
stattdessen Gartenarbeit tun als Zivilist im Tagelohn
bis an sein Lebensende. Doch wenn ich auch als Sohn
über meinen Vater nicht nur Gutes sagen kann,
Seine Haltung damals rechne ich ihm heute noch hoch an
10 :
Hier lass" ich die Geschichte enden, was danach geschah
Ist mir noch mir alles viel zu gegenwärtig, viel zu nah
an meinem eigenen Leben dran, ich meine in dem Sinn,
in dem ich selbst Täter und Opfer, Zeuge und Richter bin.
War meinen Ahnen auch die SPD noch Sinn und Hintergrund
ihres Daseins, weiß ich jetzt im Jahr Zweitausendund...,
dass die Partei für mich als Heimat niemals zur Debatte stand.
Doch was die Alten - sagen wir - vor hundert Jahren an sie band,
der Kampf, die großen Ziele und die Solidarität,
hätte mich auch begeistert, doch kam ich nun mal zu spät
auf diese Welt. Denn alles ändert sich - zum Glück,
sagen manche. Ich sag' leider - leider gibt es kein Zurück
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.
Um Achtzehnhundertachtundsiebzig, dem verfluchten Jahr,
wird mein Ur-Ahne Martin Götting, der ein Weber war,
des Verbrechens angeklagt, ein Sozialist zu sein,
mit seiner Frau und sieben Kindern, vier davon noch klein,
von der Polizei im Morgengrau'n aus seinem Haus gejagt.
Nicht ein Nachbar - dort im alten Land bei Stade - der es wagt,
das Verbot zu übertreten, Delinquenten, die verbannt,
ausgewiesen und geächtet sind, auch nur die Hand
zu geben, Obdach zu gewähren oder einen Bissen Brot.
Tag und Nacht von der Willkür der Staatsgewalt bedroht,
fliehen die neun Menschen nun für immer aus dem Land
in eine Welt, in eine Zukunft düster, kalt und unbekannt.
02 :
Unterwegs stirbt Martin Göttings Frau, nur ein paar Tage nach
der Vertreibung - sie ist ohnehin schon krank und schwach -
an Hunger, Kälte und Entkräftung. Aber kein Pastor
will sie christlich bestatten. Schließlich bei Wintermoor,
in der Heide irgendwo, verscharrt er sie dann selbst im Wald.
Zieht weiter, Tage, Wochen, nirgends macht er lange Halt.
Kommt abgerissen, schmutzig in Hannoversch-Münden an
mit seinen Kindern. Halb verrückt vor Hunger packt er dann
die Axt und stürmt in einen Laden, brüllt in seiner Not:
"Gebt mir Brot für meine Kinder, oder ich schlage euch tot!"
Der Bäcker sagt nur:" Halt, Genosse, hier in diesem Haus
seid ihr willkommen. Esst euch erst mal satt und ruht euch aus.
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.
03 :
Amanda, meine Großmutter mütterlicherseits,
ist Büglerin bei Seidensticker - man schreibt nun bereits
das Jahr Neunzehnhundertvierzehn -, sie führt einen zähen Kampf
für den Achtstundentag, das Frauenwahlrecht, schwitzt im Dampf
und der Glut zischender Eisen. Sie veröffentlicht
nebenbei auch noch das ein" oder andere Gedicht
in der "Volkswacht" - damals das Organ der SPD.
Reime über späte Rosen, die noch blühn im ersten Schnee.
Geht in ihren Versen auch mit der Partei hart ins Gericht
- der Kriegskredite wegen, die druckt man natürlich nicht.
Ganz Deutschland jubelt, weil der Krieg endlich beginnt,
erstickt die Stimmen der Vernunft, da, wo sie noch zu hören sind.
04 :
Anno Neunzehnhundertachtzehn bricht bei Kriegsende in Kiel
der Aufstand der Matrosen aus, und es fehlt nicht viel,
dass mein Großonkel Gustaf stirbt, verletzt von einem Schuss.
Sieben Kameraden tot. Er bleibt am Leben, doch er muss
mit ansehn, während seine Wunde nur ganz langsam heilt,
wie sich der Genosse Noske - aus Berlin herbei geeilt -
an die Spitze der Erhebung stellen lässt - und sie verrät.
Als die Soldatenräte es bemerken, ist es längst zu spät.
Gustaf ist verbittert, tief enttäuscht von der Partei,
die sein Leben ist, dennoch bleibt er weiterhin dabei
und bis ans Ende seiner Tage ein Parteisoldat.
Ja, so einer kann sehr treu sein, so ein Sozialdemokrat
05 :
Die junge deutsche Republik, hat sich scheinbar befreit
von alten Zwängen. Und auch meine Mutter ist zu jener Zeit,
neunzehnhundertneunundzwanzig, noch recht jung und sie
ist im Haus eines Patriziers der Tabakindustrie
als Dienstmädchen - als so genannte Perle - angestellt.
Wenn ich Patrizier sage, meine ich so richtig altes Geld.
Reichtum, wie er sich über die Jahrhunderte erhält.
An dem Spinnweben kleben, der zu Goldstaub zerfällt
bei Berührung und sich dadurch noch vergrößert und vermehrt.
Meine Mutter also - Fenster offen - singt und steht am Herd.
Zwei Zimmerleute draußen bei der Arbeit, singen mit,
auch den "Sozialistenmarsch" schmettern sie laut zu dritt.
06 :
Der Hausherr kommt und sagt: "Dora, wenn ich in diesem Haus
noch einmal solche Töne hören muss, fliegen sie raus!"
Kurz darauf wird meine Mutter nachts von einem Schuss geweckt,
findet ihren Dienstherrn tot im Sessel ausgestreckt.
Fast so groß wie eine Faust ist das Loch in seiner Stirn.
Dora fegt mit Handfeger und Schaufel sein Gehirn
vom Teppich und - die gnädige Frau will es nun mal so -
entsorgt es, wie befohlen, auf dem Dienstbotenklo.
So geschehen damals nach dem großen Börsenkrach,
jenem schwarzen Freitag, als die Welt zusammenbrach
für die Herrschaft meiner Mutter - plötzlich ruiniert,
all das schöne alte Geld für immer futsch, verspekuliert.
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.
07 :
Neunzehnhundertsechsunddreißig steht an einem Tag im Mai
mein Opa August am Poetenweg vor'm Haus und hält dabei
seine Kuh am Strick, lässt sie grasen, sieht von weitem schon
beim Spaziergang in der inneren Emigration
Reichsinnenminister Severing im Zwangsruhestand.
Der kennt Großvater August, drückt ihm jovial die Hand.
"Na, was sagt Volkes Stimme denn zu h*****s Politik?"
fragt er Opa und der sagt:" h***** bedeutet Krieg."
Severing lacht und meint:" Genosse, wenn wir zwei
uns hier in drei Jahren wiedersehen, ist der Spuk vorbei.
Hier, nehmen sie die Zigarre, rauchen sie die, guter Mann."
Steckt sie in Opas Westentasche und entfernt sich dann.
08 :
Neunzehnhundertneununddreißig hat mein Vater Streit
mit Wachtmeister Karwanke, der ist n*** und er schreit:
"Nur ein Wort noch gegen unsern Führer und dann bist du dran!"
Das meint er ernst, das weiß hier jeder, er hat schon vier Mann
aus der Gegend - Sozis, Kommunisten - ins KZ gebracht,
die nie zurückgekommen sind, nur hat er nicht bedacht,
dass Vater viele Freunde hat. Und in der Nacht darauf
lauern ihm so an die sechs vermummte Männer auf.
Nun, verprügelt wird er diesmal nicht, es reicht, dass man ihm droht:
"Du weißt, am Tag, an dem sie Hermann holen, bist du tot."
So bleibt Vater unbehelligt, immerhin ein kleiner Sieg.
Nur wird er bald darauf Soldat, wieder beginnt ein Krieg.
09 :
Neunzehnhundertsechsundvierzig. n***-Deutschland ist besiegt.
Der Gemeinderat versammelt sich. Und von Karwanke liegt
ein Gesuch vor: Er will wieder Polizeiwachtmeister sein.
Alle sind dafür und nur mein Vater stimmt mit 'Nein'.
Die Genossen schimpfen: "Hermann, Mensch, es muss doch weiter gehn.
Du musst doch mal vergessen können und nach vorne sehn."
Aber als er an der Entscheidung festhält bis zum Schluss,
wird n***-Karwanke nie mehr Polizist und muss
stattdessen Gartenarbeit tun als Zivilist im Tagelohn
bis an sein Lebensende. Doch wenn ich auch als Sohn
über meinen Vater nicht nur Gutes sagen kann,
Seine Haltung damals rechne ich ihm heute noch hoch an
10 :
Hier lass" ich die Geschichte enden, was danach geschah
Ist mir noch mir alles viel zu gegenwärtig, viel zu nah
an meinem eigenen Leben dran, ich meine in dem Sinn,
in dem ich selbst Täter und Opfer, Zeuge und Richter bin.
War meinen Ahnen auch die SPD noch Sinn und Hintergrund
ihres Daseins, weiß ich jetzt im Jahr Zweitausendund...,
dass die Partei für mich als Heimat niemals zur Debatte stand.
Doch was die Alten - sagen wir - vor hundert Jahren an sie band,
der Kampf, die großen Ziele und die Solidarität,
hätte mich auch begeistert, doch kam ich nun mal zu spät
auf diese Welt. Denn alles ändert sich - zum Glück,
sagen manche. Ich sag' leider - leider gibt es kein Zurück
Leben und Sterben, der Ahnen als Sagen
an mich, den Erben weiter getragen,
schrieb ich sie nieder und gebe sie wieder.
Haben doch weit vor meiner Zeit
all diese Leute schon so, wie ich heute
geliebt und gehasst und ich möchte,
dass die Erinnerung an sie
so schnell nicht verblasst.